All you need is… Hauntology!

Hauntology ist ein Phänomen. Ein Statement. Eine musikalische Nische. Kontrovers und spannend zugleich. Doch was bedeutet Hauntology und was hat es damit auf sich? Tauchen wir ein...


In eigener Sache

Letztes Jahr im sonnigen Frühling erschien «Of Mirrors», ein Album mit meinem ehrenwerten Kollegen Virlyn aus Belgien¹. David Newman veröffentlichte es auf dem tollen Audiobulb. Die CD-Vesion erschien wenige Wochen später auf meinem Label, EndTitles in einer limitierten Auflage. Mary Anne Hobbs vom BBC Radio 6 kontaktierte David und war an der Musik seines Labels interessiert. David sagte gerade aus: «Just pick one». Das tat sie und wählte «Of Mirrors». Mitten in der Nacht horchte ich gebannt damals im Mai ihrer Show und hörte Mary Anne zum Schluss der Sendung ansagen: «I am gonna leave with a piece of music that has been haunting me…» Die Original-Ansage auf Instagram: Link. Ich erstarrte und bekam Gänsehaut. Ihre weiche, eindringliche Stimme hypnotisierte mich. «This is Secret Place». Ich dachte nur wow und war von der Bezeichnung «haunting» gefesselt. Des Öfteren hörte ich meine Leute über An Moku sprechen im Kontext der Spannung, Stimmung, Gänsehaut, Dämmerlicht, Konzentration, Schauer, gar Hypnose. Das schmeichelte mir. Fasziniert von der Elektronik, den Nostalgie-Aspekten, Field Recordings, Dark Ambient, Drone, Lowercase und klassischen Instrumenten produzierte ich, was ich für gut befand. Bis es mir mit wie Schuppen von den Augen fiel: Meine Musik ist tatsächlich «haunting»!

So begann ich mich mit dem Thema auseinander zu setzten bis ich im Herbst letzten Jahres «Less» aufnahm. Ein sehr reduziertes, auf wenige Aspekte konzentriertes Album, erhältlich in wenigen Tagen:

“​Less​ was my most difficult album to make,” says Grenzler. Frustrated by his lack of progress on a concurrent project, he turned to his bass guitar and his effects boxes, and over a two-day session produced a kind of music that was a departure for him: “​Less ​is an approach to Hauntology and drone. I’ve never done those like this before.”

“Most of my recordings are only with the bass guitar and effects,” he points out. ​Less​ ​is a textured, sensual audio fabric of electricity, the sound of voltage flowing through equipment, pushing against impedance, expanding into a sonic architecture of places: the sound of still life, objects, haunted spaces.

During the pandemic lockdown, he listened to hauntology recordings and wanted to direct his efforts at the genre, “somehow, with my own ideas. I wanted ​Less ​to be abstract. I wanted to limit myself and had to rethink. My limitation on this release was bass, a bunch of pedals on two pedalboards, and some sampled dusty vinyl crackles!”

This is something of a hardware album, a duet between Grenzler and his boxes… The central “location” of the album, it’s a place into which the music directs the ear, a churning soundscape of uneasy memories and dramatic stabs of sensation. From here, ​An Moku ​guides the listener back out through the final track…

“I knew I wanted to let the bass sound differently,” he explains. “You hear walls of sound full of movement and voltage, but less of the bass. All in all it is less of everything.”

But less of everything, on ​Less,​ produces more. Like the ​natura morta​ paintings of artists like Giorgio Morandi, tracks like “A Better Tomorrow” and “Forgetting” seem to just turn on, there before our ears in the way an image sits before our eyes. Sounds hum and expand with the tactility of the vibrating strings of Grenzler’s bass guitar, the loops of voltage that run through his effects.”Auszug aus dem Pressetext von Puremagnetik

«Less» ist ab dem 13. April über das grossartige New Yorker Puremagnetik auf Kassette und Digital erhältlich.


Definition

Doch was ist Hauntology? Ich begab mich auf die Suche und fand paar Erklärungen, denn das Genre ist noch nicht sehr alt…

Hauntologie ist ein Genre oder eine lose Kategorie von Musik und Kunst, die darauf abzielt, ein tiefes kulturelles Gedächtnis hervorzurufen, das sich mit der Ästhetik der Vergangenheit befasst. Es entwickelte sich in den 2000er Jahren hauptsächlich unter britischen elektronischen Musikern und stützt sich in der Regel auf britische Kulturquellen aus den 1940er bis 1970er Jahren, darunter Bibliotheksmusik, Film- und TV-Soundtracks, Psychedelika und öffentliche Informationsfilme, häufig unter Verwendung von Sampling.

Der Begriff «Hauntologie» wurde erstmals von dem französischen Philosophen Jacques Derrida in seinem 1993 erschienenen Buch The Spectre of Marx geprägt, in dem er beschreibt, wie der titelgebende politische Theoretiker und seine revolutionären Ideale die westlichen Gesellschaften noch lange nach seinem Tod verfolgen. In seiner populärsten Form dreht sich das Konzept der Hauntologie jedoch um die künstlerische Evokation und Erinnerung an vergangene kulturelle Merkmale und Technologien wie alte Fernsehsendungen, Tonbandaufnahmen und analoge Medien im Allgemeinen.

Das moderne Studium der Hauntologie als Ästhetik begann mit dem Auftreten eines britischen Underground-Trends für elektronische Musik, der häufig mit dem Ghost Box-Label und Künstlern wie Burial und The Caretaker in Verbindung gebracht wird – während der erstere die Aufmerksamkeit der berüchtigten Musikjournalisten Mark Fisher und Simon Reynolds auf sich zog Letzterer wurde im Laufe des Jahres 2010 dank seiner experimentellen Alben An Empty Bliss Beyond This World und Everywhere At the End Of Time, die beide das Gedächtnis und die Demenz durch Sampling und Bearbeitung von Ballsaalmusik aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erforschten, schnell zu Internet-Berühmtheit.

Während die Hauntologie nicht an einen bestimmten Zeitraum gebunden ist, wird sie hauptsächlich verwendet, um Werke zu definieren, die auf relativ neuen kulturellen Artefakten basieren und normalerweise nur bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückreichen. Eine weitere akademische Untersuchung des hauntologischen Phänomens wurde auch von den oben genannten Theoretikern durchgeführt, wobei seine Popularität als Symptom für eine tiefe und allgemeine Unzufriedenheit mit dem Mangel an Visionarismus der Moderne angesehen wurde – in diesem Sinne rufen vergangene kulturelle Formen einen verlorenen Utopismus für futuristische Post hervor Wohlfahrtsgesellschaften, die seitdem von der erzwungenen Idee des Neoliberalismus einer «Endzeit» abgelöst wurden, ab der keine alternativen wirtschaftlichen oder sozialen Systeme möglich oder machbar erscheinen.

Parallel dazu ließen sich Musiker wie Ariel Pink und James Ferraro von der elektronischen Musik der 70er und 80er Jahre inspirieren, um Genres wie Lo-Fi und hypnagogischen Pop anzukurbeln und den Weg für die Entstehung der Vaporwave-Bewegung in den 2010er Jahren zu ebnen.

Künstler, die es ausserdem zu hören gilt


Support: Holly Herndon and Matt Dryhurst Podcast


FAZIT: Persönlich fühle ich mich in dem Genre ideologisch gesehen bestens aufgehoben und dennoch distanziere ich mich in dem Sinne vom Sampling vorhandenen Materials und dem politischen Aspekt. «No Future» und «The Future is cancelled» spielen für mich eine grosse Rolle. Wer seine Augen nicht verschliesst, weiss, dass die kommenden Generationen politisch/ökologisch viel aus zu löffeln haben werden.

Ich verabschiede mich mit einem Stück namens «Phimola», dass ich während des Sommers einmal in Dauerschleife in meinem Café spielte. Eine Frau kam an den Tresen und fragte mich leicht aufgelöst, was mit der Musik passiert sei: «Habe die CD einen Sprung?» Paar Tage nach der Veröffentlichung, eine Bekannte, die den Lockdown im Sommer auf Aruba verbrachte, begrüsste mich über den Facebook Messanger mit einem Morgenkaffee: «Sonnenaufgang mit Phimola». Und zu guter Letzt das Stück «Mirror». Es ist eines meiner absoluten Favoriten. Hauntology – Ein Genre, eine Nische. Kontrovers und spannend. Viel Vergnügen und danke für deine Zeit ;-)

Nächstes Mal: All you need is… MiniDisc!


Quellen: Wikipedia, Youtube, Bandcamp

¹  «Of Mirrors» ist 2012 fertig gestellt worden und anschliessend 2013 in den USA auf Already Dead Tapes Records in einer limitierten Auflage von 50 Kassetten erschienen. Ich war damals nicht ganz happy mit dem Release und liess das Album vor erst ruhen bis ich es 2019 erneut in Angriff nahm und 2020 letztendlich veröffentlichen liess.